Als akademischer Theologe erlebe ich die Offenbarung Gottes in Jesus Christus und den Fachdiskurs in der Tradition der Aufklärung als zwei Pole. Sie bilden für mich als gläubigen Wissenschaftler und vernünftig denkenden Christen keinen Gegensatz oder Widerspruch. Sie sind keineswegs zu trennen, aber deutlich zu unterscheiden.
Die Spannung zwischen Gottes Weisheit und menschlicher Wissenschaft, die sich auf die vorfindliche Wirklichkeit und Verfügbarkeit konzentriert, besteht nicht erst seit der Neuzeit. Schon Paulus entfaltet in 1. Korinther 1,18-2,16, dass Gottes eigenes Wesen und Handeln der menschlichen Vernunft an sich nicht zugänglich wäre. Ohne die Offenbarung Gottes wäre der Mensch auf seine eigene Weisheit beschränkt. Seine Vernunft bliebe zwangsläufig auf die eigene Erfahrung begrenzt. Dabei bilden weder die Erkenntnis noch der Verstand das eigentliche Problem. Zur Torheit führen „Aufklärung“ und „Historische Kritik“ nur dann, wenn der Mensch vorgibt, mithilfe seiner eigenen „Vernunft“ die gesamte Realität mit den Mitteln seiner subjektiven Wahrnehmung erfassen zu können.
Der Anspruch des Evangeliums ist nicht, dass es etwas verkündet, was „selbst-verständlich“ ist, sondern vielmehr, dass es etwas „Unerhörtes“ mitteilt: „was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat ...“ (1. Korinther 2,9). Das Evangelium wird von Paulus selbst keineswegs als das Ergebnis rein logischen Denkens und als das Produkt menschlicher Weisheit beschrieben, sondern als das von Gott selbst gegebene (2. Korinther 5,19), von ihm offenbarte Wort (Galater 1,1.11f.; 2. Korinther 4,6).
Nach menschlichen Kriterien und unter Absehung der Glaubenserkenntnis mag es den Unverständigen durchaus als „Torheit“ erscheinen (1. Korinther 1,18ff.). Das Wort vom Kreuz richtet sich aber nicht nach dem, was auch ohne die Voraussetzung der Existenz Gottes einleuchtet, sondern nach dem, was aufgrund der Selbsterschließung Gottes im Evangelium von Jesus Christus als wahr und richtig erkannt wird. Grundlegend für den Glauben ist, dass Kreuz und Auferstehung Jesu als heilsnotwendig erkannt werden – nicht als denknotwendig.
Nun hat Gott mit der Sendung seines Sohnes, Jesus Christus, nicht nur viel mehr Wahrheit und Weisheit offenbart, sondern auch eine wesentlich andere. Mit dem anstößigen Wort vom Kreuz und der Auferweckung des für uns Gestorbenen erschließt er uns sein Wesen als Liebe. In der selbstlosen Lebenshingabe Jesu entlarvt er die vermeintliche Weisheit dieser herrschsüchtigen und selbstbezogenen Welt. Seine Weisheit erschließt Gott gerade nicht den durch Macht, Reichtum und Wissen Überheblichen, sondern den Angewiesenen, Schwachen und Unterdrückten. Gegen alle menschliche Vernunft überwältigt er durch Liebe und überzeugt durch die demütige Selbsthingabe seines Sohnes. Er macht die scheinbar Törichten dieser Welt durch seinen Geist weise und überführt die vorgeblich Klugen ihrer Ichbezogenheit und Selbstherrlichkeit. Ist diese Weisheit Gottes töricht? Wer die Erlösungsbedürftigkeit und Ungerechtigkeit dieser vermeintlich „aufgeklärten“ Welt wahrnimmt, kann in Gottes Handeln nur eine tiefe Weisheit und Vernunft erkennen.
Die Einsicht, dass wir bei unserem eigenen Bemühen, Gott zu denken, sehr schnell an unsere prinzipiellen Grenzen stoßen, rechtfertigt also keineswegs ein Misstrauen gegen das Denken, den Verstand und die Erkenntnis selbst. Die menschliche Vernunft mag von sich aus auf die Erkenntnis dessen beschränkt sein, was jedes Auge sehen und jedes Ohr hören kann. Deshalb wird der „natürliche Mensch“ mit seinem Verstand auch grundsätzlich nicht erfassen können, was Gott durch seinen Geist neu erschließt (1. Korinther 2,6-16).
Jedoch zeigt uns gerade Paulus als der Verkündiger der vermeintlichen „Torheit Gottes“ (1. Korinther 1,21.25) vorbildlich, was es bedeutet, Gottes Evangelium als die höhere Weisheit logisch zu entfalten und sein vorgegebenes Wort im Glauben gedanklich zu durchdringen. Theo-logisch denken bedeutet für den als Schriftgelehrten ausgebildeten und von Christus selbst belehrten Apostel (Galater 1,11-16), der Weisheit und der Offenbarung Gottes „nachzudenken“ – vernünftig zu glauben und gläubig zu denken. Gibt es etwas Faszinierenderes, als den Glauben in der Tradition der Apostel und Evangelisten theologisch durchdacht zu entfalten und Theologie in der Erkenntnis und Begeisterung des Glaubens zu entwickeln?
So bilden Vernunft und Glauben beim Nachdenken und Nachvollziehen des Evangeliums also weder einen Gegensatz noch eine undifferenzierte Einheit. Sie wollen als zwei Pole eines Spannungsfeldes klar zugeordnet werden. Weder verbietet die Vernunft zu glauben, noch verbietet der Glaube zu denken. Aber der Mensch kommt nicht durch die Vernunft zum Glauben – sondern durch den Glauben zur Vernunft.