Wie ist es möglich, Herr, dass ich seit Jahren versucht habe, unabhängig von dir für dich zu leben, anstatt zu verstehen, dass du selbst durch mich leben willst? Wie konnte ich dich immer wieder um Kraft bitten, wenn du selbst als meine Stärke bei mir bist, wie um Liebe, wenn du selbst als die Liebe in mir wohnst?
Wie oft habe ich dir in dieser Zeit Versprechen gegeben, die ich dann doch nicht eingelöst habe. Unzählige Male habe ich mir vorgenommen, mich endgültig zu ändern, endlich ganz neu und ganz anders anzufangen – solange, bis ich selbst nicht mehr daran glauben konnte. Immer wieder versuchte ich bei geeigneten Anlässen ›aufzutanken‹, um in meinem Alltag mit dem nötigen Schwung bestehen zu können – aber meine Vorräte gingen mir oft schon aus, bevor ich wieder richtig zu Hause war.
Ich merkte wohl, dass sich der Glaube nicht speichern und das Leben nicht konservieren lässt. Jedoch zog ich daraus die falschen Schlüsse. Ich verzweifelte abwechselnd an dir, an meinem Glauben und mir selbst – aber zweifelte zu wenig an der Art, wie ich meinen Glauben lebte. Ich kam nicht auf den Gedanken, dass ich vielleicht mit dem richtigen Glauben an den wahren Gott glaubte – aber eben auf falsche Weise.
Ich dachte, du wärst mir mit deinem Kreuz und deiner Auferstehung viele entscheidende Schritte entgegengekommen – bis auf den einen, den ich allein und ohne dich zu gehen hätte. Ich fühlte mich verpflichtet, auch etwas von mir aus für dich zu tun, nachdem du schon so viel für mich getan hattest. Aber je mehr ich mich anstrengte, desto verkrampfter und verzweifelter wurde ich. Zwar bat ich dich stets um deine Unterstützung, aber letztlich suchte ich das Entscheidende doch bei mir.
Jetzt erkenne ich, dass gerade das mein Fehler war, dass ich von mir etwas erwartete, was du gar nicht von mir gefordert hattest, dass ich etwas erkämpfen wollte, was ich in dir schon längst hatte.
Du bist mir nicht nur neun – oder auch neunundneunzig – Schritte entgegengekommen, so dass jetzt alles an meinem einen eigenen Schritt läge, sondern du bist alle – zehn oder hundert – Schritte auf mich zugekommen, damit ich nun jeden Schritt, den ich zu gehen habe, mit dir und durch dich gehen kann.
So will ich dir von nun an nichts mehr versprechen – aber möglichst alles erlauben. Ich möchte dich nicht mehr nur für meine Geschichte beanspruchen, sondern mich für deine Geschichte mit dieser Welt und mit mir öffnen. Ich werde dich weniger um Dinge bitten – aber dir für viel mehr danken; danken dafür, dass es keine Situation geben wird, in der du nicht bei mir sein wirst, danken dafür, dass du selbst mit deiner Gnade und Treue mir alles das bist, was ich brauche, um nach deinem Willen zu leben.
Jetzt bin ich mein Leben nicht mehr leid, sondern auf dein Leben gespannt. Ich brauche nicht mehr an mir zu verzweifeln, sondern kann auf dich hoffen. Ich habe erkannt, dass nicht ich den Glauben trage, sondern der Glaube mich trägt. Alle deine Worte werden für mich plötzlich zu Verheißungen, weil ja auch deine Aufforderungen von dem sprechen, was du selbst durch mich tun willst. Ich bin befreit davon, ständig meinen eigenen geistlichen Puls zu fühlen, weil ich weiß, dass dein Herz wirklich für uns Menschen – und damit auch für mich – schlägt.
Nicht dass sich bei mir selbst etwas Entscheidendes geändert hätte und ich plötzlich stark wäre, wo ich vorher schwach war. Nein, neu ist nur, dass ich anfange zu verstehen, was ich in dir gefunden habe. Ich brauche weder etwas Neues noch etwas anderes, als ich schon lange habe; aber das brauche ich – nämlich dich. Und dies ist auch das Befreiende und Beglückende an meiner neuen Erkenntnis, dass es in meinem Glauben auf dich ankommt und um dich geht.
Wie ich mich kenne, werde ich das immer wieder vergessen – aber du vergisst es nicht. Und wie ich dich kenne, wirst du mir in deiner unendlichen Geduld dann wieder die Augen öffnen und mich zu dir zurückholen, und dafür danke ich dir von ganzem Herzen.